Tierstudien

Schimpansenkinder auf Tandem, um 1910

"Die geborenen Spaßmacher"

 

Von der falschen Sicht auf Schimpansen hin zu ihrem Missbrauch in Zirkussen, Zoos und sonstiger Unterhaltungsindustrie

 

Colin Goldner

 

Bis herauf ins 17. Jahrhundert hatte kein Mensch in Europa je einen leibhaftigen Schimpansen zu Gesicht bekommen. Das erste Exemplar, das die damals monatelange Schiffspassage aus dem westlichen Afrika lebend überstand, kam 1636 in Rotterdam an.(1)  Bis dahin war von menschenähnlichen und am ganzen Körper behaarten Wesen, die es in fernen Ländern geben sollte, allenfalls in Legenden und wenig geglaubten Seefahrerberichten die Rede gewesen.(2) Besagter Schimpanse, detailliert beschrieben von dem holländischen Arzt Claes Pieterzoon Tulpius,(3) verstarb nach kurzer Zeit. Auch die in den Folgejahren in zunehmender Zahl auf Handelsschiffen angelieferten Schimpansen blieben in Gefangenschaft nicht lange am Leben. Ihre toten Körper, auch die jener Tiere, die schon während der Überfahrt gestorben waren und die man bis zur Ankunft in Salzfässern konserviert hatte, wurden zerstückelt und in Alkohol eingelegt, auch ausgestopft oder skelettiert, und in fürstlichen Naturalienkabinetten oder Wunderkammern ausgestellt; oftmals reisten sie auch als Anschauungs- und Studienobjekte von einem Ort zum nächsten.

 

Linné, Buffon, Rousseau

 

1699 erregte der britische Arzt und Zoologe Edward Tyson enormes Aufsehen mit seiner Untersuchung des Körperbaus eines Schimpansen, bei der er 38 Merkmale eines Affen, hingegen 48 Merkmale eines Menschen festgestellt hatte; er siedelte den Schimpansen deshalb auf einer Zwischenstufe zwischen Mensch und Affe an.(4) Wenig später warf der französische Hofarzt François Quesnay gar die Frage auf, ob Schimpansen, die er aus der königlichen Menagerie von Versailles kannte, nicht vielleicht eine unbekannte Art von Mensch seien.(5)

 

1758 sorgte der schwedische Naturhistoriker Carl von Linné für ein mittleres Erdbeben unter den europäischen Philosophen und Naturgelehrten: Er hatte es gewagt, in seiner (bis heute bestehenden) Taxonomie der Arten die Großen Menschenaffen aufgrund ihrer unabstreitbaren anatomischen und physiologischen Ähnlichkeit zum Homo sapiens der gleichen Ordnung der „Primates“ zuzuordnen.(6) Über Berichte von Forschungsreisenden war mittlerweile auch die Existenz von Orang Utans und Gorillas bestätigt worden; erste lebende Exemplare kamen gleichwohl erst 1776 bzw. 1855 nach Europa.

 

Einer der schärfsten Kritiker Linnés war der Naturforscher Georges-Louis Leclerc Comte de Buffon, der 1766 dekretierte, es heiße „den Menschen mit dem Affen [...] einzuordnen [...], die Natur entwürdigen und schänden, statt sie zu beschreiben oder zu benennen“.(7) Auch Johann Christian Daniel von Schreber, Herausgeber des 1775 erschienenen Kompendiums Die Säugethiere, das den seinerzeitigen Kenntnisstand über Schimpansen, Gorillas und Orang Utans zusammenfasste, hielt es „nicht für überflüssig, die vornehmsten Puncte, in welchem beyde [=Mensch und Menschenaffe] sich voneinander entfernen, kürzlich anzuzeigen“.(8) Er referiert ein paar anatomische Unterschiede, um sehr schnell zu dem Schluss zu kommen, es bliebe „kein Zweifel übrig“, dass der Menschenaffe „ein wahrer Affe sey“, hauptsächlich deshalb, weil ihm das Vermögen fehle, vernünftig zu denken.(9)

 

Eine ganz andere Auffassung vertrat Jean-Jacques Rousseau, der in einer 1755 – und damit drei Jahre vor der bahnbrechenden Veröffentlichung Linnés – erschienenen Abhandlung die Idee entwickelte, bei den Großen Menschenaffen handle es sich nicht um menschenähnliche Tiere, sondern um „wilde Menschen“ in einem natürlichen, von keiner Zivilisation verdorbenen Urzustand.(10)

 

Auch wenn Rousseau von kirchlichen und akademischen Lehrstühlen herab mit Hohn übergossen wurde,(11) gab es durchaus auch Gelehrte, die auf seiner Seite standen. In England etwa entwickelte der Literat James Burnett, bekannt als Lord Monboddo, im Zuge seiner 1784 veröffentlichten Untersuchungen über Ursprung und Fortschritt der Sprache eine Abstammungsgeschichte des Menschen, der sich seiner Auffassung nach aus dem Menschenaffen fortentwickelt hat und insofern der gleichen Spezies zugehört wie dieser.(12) 

 

Pan und Inschoko

 

Zu den Kritikern Linnés zählte auch der Göttinger Zoologe Johann Friedrich Blumenbach, der dessen Verletzung der geheiligten Trennlinie zwischen Mensch und Tier heftig widersprach. Mit der Zuweisung eines lateinischen Gattungsnamens an den Schimpansen zog er diese Trennlinie in einer Weise nach, wie es deutlicher und schärfer nicht ging. In einer 1775 veröffentlichten Schrift, die 1780 zu einem umfänglichen und in der Folge vielfach neuaufgelegten Handbuch der Naturgeschichte erweitert wurde, versah Blumenbach den Schimpansen mit dem Namen Pan troglodytes, wie er bis heute wissenschaftlich heißt. Zuvor waren die Schimpansen mit den unterschiedlichsten Bezeichnungen und Namen bedacht worden, meist hieß man sie „Indische Satyrn“, bezugnehmend auf die Chimärenwesen des hellenischen Mythos; das Adjektiv ‚indisch‘ galt als Synonym für ‚fremdartig‘ oder ‚exotisch‘. Allerdings waren sie durchaus auch als „Chimpaneze“ bekannt, was sich aus einem von Seefahrern mitgebrachten Begriff aus dem südöstlichen Kongo herleiten soll, der soviel wie „unechter Mensch“ bedeute.(13) Gelegentlich wurden sie nach ihrer vermuteten Herkunft als „Angolanische Affen“ bezeichnet, auch Begriffe wie „Jocko“, „Inschoko“, „Kulu Hamba“, „Barris“, „Golock“ oder auch „Bulock“ waren in Umlauf. Um die nomenklatorische Verwirrung zu komplettieren, bezeichneten manche Autoren bis ins ausgehende 18. Jahrhundert (und darüber hinaus) unterschiedslos sämtliche Großen Menschenaffen, also auch Schimpansen, als Orang Utans, was im Malaiischen soviel wie „Waldmensch“ bedeutet; gelegentlich benutzte man den Begriff, gleichermaßen unterschiedslos, auch in seiner lateinischen Übersetzung Homo sylvestris.(14) 

 

Troglodyt ist ursprünglich der griechische Begriff für Höhlenbewohner, der, verknüpft mit dem Stereotyp des nicht-christianisierten „Wilden Mannes“, im Bürgertum des 18. und 19. Jahrhundert als verächtliche Bezeichnung für Menschen mit ausgesprägt schlechtem, unkultiviertem Benehmen galt. Pan, der Gattungsbegriff selbst für die Schimpansen, wurde nach dem griechischen Gott der ungebändigten Natur gewählt, der über und über behaart und mit meist erigiertem Phallus durch die Wälder zog und die Menschen, die seiner ansichtig wurden, darob in panischen Schrecken versetzte (daher der Begriff Panik). Pan, seiner Dauergeilheit wegen im hellenischen Mythos meist mit Bockshörnern und Bocksfüßen bzw. mit dem kompletten Unterleib eines Bocks dargestellt,(15) wurde im christlichen Mittelalter als Vorbild für die von den Scholastikern neuerfundene Gestalt des Teufels herangezogen.(16) 

 

Blumenbach stellte die Schimpansen mit seiner Namenszuschreibung gezielt in eine Reihe mit bereits bekannten ‚Teufelstieren‘: Von all dem dämonischen und teuflichen Getier, das die Vorstellungswelt des Mittelalters und der frühen Neuzeit durchzog, kam der Affe mit Abstand am häufigsten vor. Seit je galt er als Inbegriff von Dummheit, Faulheit und vor allem bösartiger Verschlagenheit. Die realen Affen, die man dabei vor Augen hatte, waren Meerkatzen, Paviane und Berberaffen, die, wie aus Berichten von Aristoteles, Plinius oder Galen bekannt ist, im europäischen Kulturraum seit der Antike durchaus geläufig waren. Im Mittelalter wurden die Affen zu Teufelstieren schlechthin stilisiert: Da sie aussahen wie Menschen, aber nicht Gottes Ebenbild sein durften, mussten sie des Teufels sein.(17)

 

Tittel, Perleb, Hegel

 

In die gleiche Richtung wie Blumenbach zielte auch der fürstlich-badische Kirchenrat Gottlob August Tittel, der in einer Schrift von 1788 ausführte: „Der Affe [= Schimpanse] kommt in manchem dem Menschen etwa noch am nächsten. Aber […] auch das allergeschikteste Thier wird man in dem, was einige Ueberlegung oder deutlichen Begrif erfordert, nicht so weit bringen, als man vielleicht den dummsten Menschen bringen kann. So weit noch stehet das Thier vom Menschen ab.“(18) 

 

Immanuel Kant sah die Frage nach dem Unterschied zwischen Mensch und Menschenaffe mit der Taxonomie Blumenbachs als geklärt an: Allein schon die für technischen Vernunftgebrauch bestimmte menschliche Hand mache es, wie er 1798 schrieb, „umsonst zu glauben, dass der Mensch eine Affengattung wäre“.(19) In einem 1831 erschienenen Lehrbuch der Naturgeschichte des Freiburger Philosophen Karl Julius Perleb heißt es, es habe die „unverkennbare und doch alles Edlen entbehrende Ähnlichkeit, welche in Gestalt und Benehmen die Affen gleichsam als Karrikaturen des Menschen zeigt […] eben darum etwas überaus Widerliches.“(20)  Auch der bedeutendste Philosoph seiner Zeit, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, sah sich in einer Schrift von 1830 bemüßigt, die Affen als „Satire auf den Menschen“  abzuqualifizieren.(21)

 

Brockhaus und Pierers

 

Aufschlussreich ist die Rezeption der Großen Menschenaffen in den wichtigsten Medien des 19. Jahrhunderts zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnis in bürgerliche Kreise hinein: den sogenannten Konversationslexika – im deutschsprachigen Raum vor allem Brockhaus (1808) und Pierers (1824), die ab den 1830er Jahren in jedem bessergestellten Haushalt anzutreffen waren (ab 1840 kam Meyers Conversations-Lexikon hinzu, ab 1853 Herders).(22)  Diese fortlaufend aktualisierten Nachschlagewerke waren außerordentlich populär, sie spiegelten nicht nur die jeweils herrschenden Auffassungen und Meinungen ihrer Zeit wider, vielmehr bestimmten sie diese wesentlich mit. Sie galten als Maßstab zur Bewertung jedwedes nur erdenklichen Gegenstands und Sachverhalts und hatten insofern größten Einfluss auf Literatur, Kunst und jedwede sonstige Form kulturellen Schaffens.

 

Selbstredend fanden auch die evolutionsbiologischen Erkenntnisse Charles Darwins Niederschlag in den Konversationslexika und führten, wenngleich in unterschiedlichem Zeitmaß, zu einer Überarbeitung und Korrektur zuvor vertretener Positionen. Während Meyers noch in der Auflage von 1860 den Menschen in einer „besondere[n] Gattung“ verortete, die sich weit „über das übrige Thierreich“(23) erhebe, hieß es in der ersten nach der Veröffentlichung Darwins von 1859 in Druck gegebenen Auflage von 1865: „Wenn auch der M.[ensch] in Folge seiner Sprache u. der mit dieser gegebenen geistigen und moralischen Fortbildungsfähigkeit den übrigen Thieren gegenüber eine besondere Stellung einnimmt, so lässt es sich doch mit keinerlei Gründen rechtfertigen [...], aus ihm ein besonders Naturreich zu bilden.“(24) Brockhaus bezog in der Auflage von 1867 unmissverständlich Position für Darwin. Bei Herders dauerte es bis 1875, bis erstmals evolutionäre Theorien vorgestellt wurden, bei Pierers bis 1891.

 

Während Darwins Erkenntnisse in den Konversationslexika über einen Zeitraum von drei Jahrzehnten hinweg zu einer Revision vorher vertretener Auffassungen führten, änderte sich in der Darstellung der Großen Menschenaffen, die ebendiese Erkenntnisse so augenfällig auf den Begriff brachten, gar nichts. Was quer durch das Jahrhundert in den Lexika, aber auch in Almanachen, Bildungsschriften und sonstiger Literatur über die Großen Affen zu lesen stand, basierte zum einen auf Abhandlungen von Gelehrten des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts, die womöglich nie ein lebendes Exemplar zu Gesicht bekommen hatten, und zum anderen, ab den 1830ern, auf Beobachtungen gefangengehaltener Tiere in den europäischen Zoos, die, beginnend mit dem London Zoo im Jahre 1828, wie Pilze aus dem Boden geschossen waren. Unterfüttert und garniert wurden die jeweiligen Darstellungen mit teils maßlos übertriebenen, gelegentlich auch frei erfundenen Berichten von Missionaren, Seefahrern, Forschungsreisenden und Abenteurern über das Leben der Tiere in ihren Herkunftsländern, auch mit Gerüchten, Fabeln und reiner Fiktion der jeweiligen Autoren, so dass der Leser ein heillos verknotetes Gewirr an zoologisch durchaus zutreffender Information, fehlinterpretierten oder schlichtweg falschen Beobachtungen und teils groteskestem Unfug serviert bekam.

 

Tieren wurde prinzipiell jede Intelligenz und Vernunft abgesprochen, ausgenommen allenfalls Hunde, Pferde und Elefanten. Auch Affen – gemeint waren Affen jeder Art, also auch Menschenaffen – wurde eine gewisse Art von Intelligenz zuerkannt: Sie wurden als „klug“ und „gelehrig“ beschrieben, gleichwohl ließen sie sich, wie es bei Meyers (1840) hieß, nur „selten zu etwas Nützlichem abrichten und gebrauchen, und tausendfältige Versuche zum Gegentheil schlugen fehl.“(25) Der Grund dafür liege in der angeborenen Bösartigkeit der Affen, die sie nicht nur „launisch und rachsüchtig“(26) mache, sondern eben auch unwillens, sich zu irgendeiner sinnvollen Arbeit verwenden zu lassen. Pierers (1867) weiß dies zu bestätigen: Sie seien in der Tat „listige, sehr reizbare u. boshafte Thiere“.(27) Öfter noch als Bosheit wurde ihnen freilich Unbeherrschtheit und stete Lüsternheit nachgesagt: „Ihre Gemüthsäußerungen sind je nach den Arten verschieden, indessen gleichen einander alle Affen durch große Unstätheit und Heftigkeit ihrer Affecte“ (Brockhaus, 1851)(28) „Durch ihre Geilheit, [...] Unmäßigkeit, Tücke u.a. Untugenden [sind sie] den Menschen unleidlich, selbst schädlich u. gefährlich." (Pierers, 1867)(29)

 

Alfred Brehm

 

Aus der endlosen Reihe an Negativzuweisungen fielen ab den 1860ern lediglich die Schimpansen heraus, über deren „Intelligenz und zutrauliche Art“, so Brockhaus (1867), es „viele interessante Erzählungen“ gebe.(30) Laut Meyers (1878) zeige sich der Schimpanse „stets rege und thätig, meist heiter, neckisch, zu allerlei Streichen und Unternehmungen bereit“.(31) Er könne, so Pierers (1867) sogar daran gewöhnt werden, „die Speisen mit Messer u. Gabel zu nehmen“.(32) Hintergrund solcher Neucharakterisierung der Schimpansen war das ab 1864 in mehreren Folgeauflagen erscheinende Illustrirte Thierleben Alfred Brehms, das, gleichwohl es sich ansonsten nur unwesentlich von den Konversationslexika unterschied, eine neue Sichtweise auf die Schimpansen eröffnete: Brehm hatte in seinem Privathaus mehrere Jungtiere aufgezogen und konnte so eine Vielzahl an Anekdoten beisteuern. Ein Schimpanse, wie er zusammenfassend schrieb, zeige „ungeachtet aller Eigentümlichkeiten, welche er bekundet, in seinem Wesen und Gebaren so außerordentlich viel Menschliches, daß man das Tier beinahe vergißt. [...] Er hat witzige Einfälle und erlaubt sich Späße. […] Er ist an und für sich durchaus nicht bösartig.“(33)

 

Die Rolle des ‚Leibhaftigen‘, die noch wenige Jahrzehnte zuvor exklusiv den Schimpansen zugewiesen worden war, wurde zunehmend – auch und gerade mit Brehm – mit den Ende der 1840er ‚entdeckten‘ Gorillas besetzt. Durchwegs wurden sie als ebenso hässliche wie furchterregende Bestien skizziert, bei Brockhaus (1866) etwa hieß es: „Der männliche G.[orilla] ist mit […] der platten Nase und der vorspringenden Schnauze, aus welcher ein furchtbares Gebiß mit scharfen Eckzähnen hervorfletscht […], eins der scheußlichsten Geschöpfe, das man sich vorstellen kann.“(34) Bei Meyers (1865) wurde ein ähnliches Horrorbild skizziert: „[Der Gorilla] fürchtet kein Thier, [er] besiegt leicht den Leoparden und […] er greift den Menschen, der sich ihm nähert, stets und auch ungereizt wüthend an, erdrückt ihn mit seinen gewaltigen Armen und zerfleischt und zerreißt ihn mit seinen furchtbaren Zähnen.“(35) Auch Orang Utans wurden als gefährlich beschrieben, allerdings wurde wiederkehrend auch auf ihre „Gescheitheit“ hingewiesen.(36)

 

Fritz und Moritz

 

Ende des 19. Jahrhunderts war das Bild, das die bürgerliche Öffentlichkeit sich mit Brehm, Brockhaus oder einer der sonstigen Bildungsschriften von den Großen Affen machte, gekennzeichnet von unverrückbaren Klischees: Gorillas galten als „blutrünstige Bestien“, Orang Utans als „widerspenstige Eigenbrötler“, und Schimpansen als „menschenzugewandte und stets gutgelaunte Spaßmacher“. Derlei ‚Charakterzuschreibungen‘, bestätigt und bestärkt durch entsprechende Darstellung in Kunst, Literatur und Medien – seit den 1930ern auch im Film –, bestimmten jahrzehntelang die öffentliche Wahrnehmung der Großen Affen.

 

Schimpansen, so die seinerzeitige Auffassung, stellten ihrer unbestreitbar großen Ähnlichkeit mit dem Menschen wegen sozusagen von Hause aus dessen Vexierspiegel dar, was sie wie nichts sonst dazu prädestiniere, zu Unterhaltungszwecken eingesetzt zu werden. Vor allem in Zirkussen und Zoos mussten sie regelmäßig den Spaßmacher geben. Ein Schimpanse namens Fritz beispielsweise, der 1888 in den Dresdner Zoo gekommen war, musste zum Vergnügen des Publikums eine Uniform tragen und im Stechschritt auf und ab paradieren; nach seinem Tod 1890 wurde er ausgestopft und mit geschultertem Gewehr im Affenhaus ausgestellt.(37)  Über einen dressierten Schimpansen namens Moritz schrieb der Hamburger Zoodirektor Carl Hagenbeck, dieser sei „geradezu der intelligenteste Affe, der mir je begegnet ist [...]. Moritz geht stets und vollständig bekleidet mit Strümpfen, Schuhen, Unterkleidern, Weste, Rock und Mütze, [...] er raucht seine Zigarette, trinkt seinen Wein.“(38) Sehr beliebt waren bis herauf in die 1960er die in vielen Zoos veranstalteten ‚Kaffeekränzchen‘, bei denen Schimpansen an einem gedeckten Tisch Platz nehmen und eine ‚vornehme Gesellschaft‘ mimen mussten. Nicht selten mussten Zooschimpansen auf Fahrrädern oder in Tretautos herumfahren, mit Musikinstrumenten hantieren oder sich in jeder sonstig nur denkbaren Weise ‚zum Affen‘ machen. Gerne wurden Schimpansenkinder auch in Kinderwägen durch den Zoo gekarrt, oft in Babystramplern und mit Babyhäubchen auf dem Kopf.

 

Cheeta und Judy

 

Zur berühmtesten Schimpansin aller Zeiten stieg Anfang der 1930er die Filmfigur Cheeta auf, treue Begleiterin Tarzans in zahllosen Zelluloid-Abenteuern: stets gut gelaunt und schelmisch, dazu verlässlich, hilfreich, loyal und Tarzan, dem Menschen, im Zweifelsfall weit zugeneigter als den eigenen Artgenossen oder sonstigen Tieren. Auch wenn für die Rolle tatsächlich dutzende entsprechend trainierter Schimpansen herangezogen wurden, erlangte Cheeta als Idealtypus des immer zu einem Schabernack aufgelegten und zugleich dem Menschen bedingungslos ergebenen Affen Weltruhm. Das mit Cheeta geprägte  Klischee wurde fortgeschrieben in der Rolle der Schimpansin Judy, die in 89 Folgen der 60er-Jahre-TV-Serie Daktari auftrat. Letztlich fällt auch die Titelfigur der ab Mitte der 1990er produzierten ZDF-Familienserie Unser Charly (mit mehr als 220 ausgestrahlten Folgen) in diese Kategorie.

 

In den 1950ern und 60ern wurde der Missbrauch von Schimpansen in der Unterhaltungsindustrie auf die Spitze getrieben: kaum ein Zirkus, in dem sie nicht als Spaßmacher auftreten mussten. Auch in Zoos mussten sie den Clown geben: Petermann etwa, ein Schimpansenkind, musste stundenlang im Kassenhäuschen des Kölner Zoos sitzen und Eintrittskarten ausgeben. In Gardeuniform musste er zudem an Karnevalssitzungen teilnehmen, und selbst für Weinbrandwerbung im Fernsehen musste er herhalten.(39) 

 

Jane Goodall

 

Vor dem Hintergrund der systematischen Feldforschung, wie sie ab den 1960ern, namentlich von Jane Goodall, betrieben wurde, änderte sich der Blick auf die Schimpansen; allerdings nicht so weit, dass es nicht weiterhin als unhinterfragbar richtig und völlig normal gegolten hätte, sie für pharmazeutische oder klinische Experimente heranzuziehen oder sie für Unterhaltungszwecke in Zirkussen und Zoos zu missbrauchen. Erst Mitte der 1980er, mit Aufkommen der Tierrechtsbewegung, entwickelte sich nennenswerter Protest dagegen: vor allem der Einsatz von Schimpansen als Manegenclowns geriet in den Fokus der Kritik. 1990 wurde im Rahmen erstmals erstellter bundesministerieller Leitlinien für die Haltung, Ausbildung und Nutzung von Tieren in Zirkusbetrieben oder ähnlichen Einrichtungen ein Ende der Mitführung von Menschenaffen gefordert.(40) Gleichwohl diese Leitlinien völlig rechtsunverbindlich waren (und bis heute sind), verzichteten die einzelnen Unternehmen peu à peu auf den Einsatz von Schimpansen. Mittlerweile gibt es im deutschsprachigen Raum keinen Zirkus mehr, der Schimpansen im Programm führt: zu groß ist das Risiko geworden, von Städten und Gemeinden Gastspielmöglichkeiten versagt zu bekommen oder vor Ort auf Protest zu stoßen. Die einzig verbliebene Ausnahme ist der in Norddeutschland ansässige Circus Belly, der bis heute einen Schimpansen vorhält. Doch auch hier ist ein Ende abzusehen: Ende 2015 hat das zuständige Veterinäramt die Überstellung des Schimpansen in eine Rehabilitationseinrichtung für missbrauchte Primaten in Holland angeordnet.

 

Auch in einem Freizeitpark nahe Stuttgart werden immer noch Schimpansen für zirzensische Darbietungen eingesetzt. Der sogenannte Schwabenpark hält bis heute die mit 43 Tieren größte Schimpansengruppe Europas vor, deren regelmäßig nachgezüchtete Jungtiere in einem hauseigenen Zirkusprogramm auftreten müssen.(41) Aufgrund massiver öffentlicher Kritik hat der Park sich 2014 verpflichtet, besonders entwürdigende Showelemente zu streichen und das Zirkusprogramm bis 2020 auslaufen zu lassen;  auch die Vermietung von Schwabenpark-Schimpansen für Werbeaufnahmen (z.B. Trigema-Textilien)(43) oder  TV- und Filmauftritte  (z.B. SternTV)(44) soll eingestellt werden. Letztlich musste auch eine ehemalige Dompteuse des DDR-Staatszirkus, die nach der ‚Wende‘ mit ihren privat gehaltenen Schimpansen auf Kindergeburtstagen, Straßenfesten und dergleichen auftrat,(45) ihren Showbetrieb 2014 einstellen.(46)

 

Die Zeiten, in denen niemand sich daran störte, wenn Schimpansen in alberne Kostüme gesteckt wurden und zum Vergnügen des Publikums antrainierte Faxen vorführen mussten, sind glücklicherweise vorbei,die ihrer Gefangenhaltung und Zurschaustellung in Zoos noch nicht.(47)

 

Quellen/Fußnoten

 

(1) Vgl. Oliver Hochadel: Darwin im Affenkäfig. Der Tiergarten als Medium der Evolutionstheorie. In: Dorthee Brantz / Christoph Mauch (Hrsg.): Tierische Geschichte. Die Beziehung von Mensch und Tier in der Kultur der Moderne. Paderborn: Schöningh 2010, S. 243–267.

(2) Z.B. Andrew Battell: The Strange Adventures of Andrew Battell of Leigh, in Angola and the Adjoining Regions. Reprinted from “Purchas His Pilgrimes” (1625). Reprint. London: The Hakluyt Society 1901.

(3) Thomas Geissmann: Vergleichende Primatologie. Berlin: Springer 2003, S. 4.

(4) Edward Tyson: Orang-Outang sive Homo Sylvestris. Or, the Anatomy of a Pygmy Compared with that of a Monkey, an Ape and a Man. London 1699.

(5) Vgl. Hester Hastings: Man and Beast in French Thought of the Eighteenth Century. Baltimore: Johns Hopkins UP 1936, S. 111.

(6) Vgl. Michael Chazan: The Meaning of Homo Sapiens. In: Raymond Corbey / Bert Theunissen (Hrsg.): Ape, Man, Apeman: Changing Views since 1600. Leiden: Department of Prehistory of Leiden University 1993, S. 229–230.

(7) Zit. n. Wolf Lepenies: Zum Schreiben zog er sich Manschetten an. In: Die Welt, 07.09.2007, http://www.welt.de/welt_print/article1164473/Zum-Schreiben-zog-er-sich-Manschetten-an.html (Zugriff am 25.11.2015).

(8) Zit. n. Hans-Werner Ingensiep: Der kultivierte Affe: Philosophie, Geschichte, Gegenwart. Stuttgart: Hirzel 2013, S. 92.

(9) Zit. n. ebd.

(10) Vgl. Jean Jacques Rousseau: Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen. Ditzingen: Reclam 1998.

(11) Z.B. Christoph Martin Wieland: Betrachtungen über J.J. Rousseaus ursprünglichen Zustand der Menschen [1770]. In: Ders.: Sämmtliche Werke, Bd. 29. Leipzig: Göschen 1840, S. 164–165.

(12) Vgl. Allan Barnard: Monboddo’s Orang Outang and the Definition of Man. In: Corbey / Theunissen (Hrsg.): Ape, Man, Apeman, S. 7–85.

(13) Vgl. http://www.yourdictionary.com/chimpanzee#americanheritage (Zugriff am 10.01.2016).

(14) Vgl. Ingensiep: Der kultivierte Affe, S. 37–38.

(15) Vgl. https://greekgodpan.wordpress.com/2013/03/10/pan-a-phallic-god/ (Zugriff am 08.01.2016). Mit Blick auf Pan wird vielfach die Tautologie „erigierter Phallus“ gebraucht.

(16) Vgl. http://www.efodon.de/html/publik/do/DO-44%20Geise-Teufel.pdf (Zugriff am 08.01.2016).

(17) Vgl. Horst Woldemar Janson: Apes and Ape Lore: In the Middle Ages and the Renaissance. London: The Warburg Institute 1952 (Reprint 1976), S. 335–336.

(18) Gottlob August Tittel: Metaphysik. Frankfurt am Main: Gebhard 1788, S. 569.

(19) Zit. n. Ingensiep: Der kultivierte Affe, S. 116.

(20) Karl Julius Perleb: Lehrbuch der Naturgeschichte, Bd. 2. Freiburg: Wagner 1831, S. 738.

(21) Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Die Gattung und die Arten. http://texte.phil-splitter.com/html/_gattung_und__art.html  (Zugriff am 25.11.2015).

(22) Brockhaus’ Allgemeine deutsche Real-Enzyklopädie für die gebildeten Stände. Leipzig: Brockhaus, ab 1808 / Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Altenburg: Literatur Comptoir, ab 1824 / Meyers Conversations-Lexikon. Hildburghausen: Bibliographisches Institut, ab 1840 / Herders Conversations-Lexikon. Freiburg: Herder, ab 1853. Die Bezeichnungen der Lexika variieren teils von Auflage zu Auflage.

(23) Zit. n. Christine Jarma: Der vermenschlichte Affe und der zivilisierte Mensch. Wahrnehmung und Konstruktion ‚des Affen‘ in deutschen Konversationslexika 1840–1891. Wien: Universität Wien 2008. http://othes.univie.ac.at/504/1/03-26-2008_9306831.pdf, S. 31 (Zugriff am 25.11.2015).

(24) Zit .n. ebd.

(25) Joseph Meyer: Das große Conversations-Lexicon für die gebildeten Stände. Hildburghausen: Bibliographisches Institut 1840, S. 486.

(26) Ebd.

(27) Zit. n. Jarma: Der vermenschlichte Affe und der zivilisierte Mensch, S. 106.

(28) Zit. n. ebd., S. 112.

(29) Zit. n. ebd.

(30) Zit. n. ebd., S.124.

(31) Zit. n. ebd., S.109.

(32) Zit. n. ebd., S.123.

(33) Brehms Tierleben: Allgemeine Kunde des Tierreichs, hrsg. v. Eduard Pechuel-Loesche, Bd. 1: Säugetiere. Leipzig: Bibliographisches Institut 1890, S. 58–59.

(34) Zit. n. Jarma: Der vermenschlichte Affe und der zivilisierte Mensch, S. 112–113.

(35) Zit. n. ebd.

(36) Zit. n. ebd., S.119.

(37) Vgl. Winfried Gensch / Mustafa Haikal: Der Gesang des Orang-Utans. Die Geschichte des Dresdner Zoos. Dresden: Edition Sächsische Zeitung 2011, S. 50.

(38) Carl Hagenbeck: Von Tieren und Menschen: Erlebnisse und Erfahrungen. Berlin: List 1914, S. 434.

(39) Daniel Thomas: Petermann. Schicksal eines Schimpansen. Gelnhausen: Triga 1998.

(40) http://www.bmel.de/SharedDocs/Downloads/Tier/Tierschutz/GutachtenLeitlinien/HaltungZirkustiere.pdf?__blob=publicationFile (Zugriff am 08.01.2016).

(41) http://schwabenpark.com/index.php?id=43 (Zugriff am 08.01.2016).

(42) http://schwabenpark.com/berichte/ (Zugriff am 25.11.2015).

(43) http://www.horizont.net/agenturen/nachrichten/Bubbles-Film-Trigema-wirbt-erstmals-ohne-den-Affen-136554 (Zugriff am 08.01.2016).

(44) http://www.stern.de/tv/stern-tv---rtl-max-und-moritz---zwei-unzertrennliche-affen-3288344.html (Zugriff am 08.01.2016).

(45) http://www.peta.de/samel (Zugriff am 08.01.2016).

(46) http://www.hpd.de/node/13124 (Zugriff am 08.01.2016).

(47) Vgl. http://www.greatapeproject.de/lebenslänglich/ (Zugriff am 08.01.2016).

 

Reihe Tierstudien

 

in: Jessica Ulrich/Aline Steinbrecher (Hrsg): Tiere und Unterhaltung (Reihe Tierstudien #9). Neofelis-Verlag, Berlin, 2016, S. 109-121

 

Hall of Shame

 

Weitere Photos von als "Spaßmacher" missbrauchten Schimpansen hier